Welt der Naturwissenschaften
(Scientific Medley)

 Jahresübersicht 1998

Die Volksbegeisterung in unsern letzten Freiheitskriegen ward wie die Jungfrau von Orleans unter ihrer eigenen Fahne begraben.
(Wolfgang Menzel)


28. März 2024


zurück Übersicht weiter

DER TRAGISCHE SIEG DER VIBRIONEN

Es war einmal ein Bakterium namens Vibrio comma. Es lebte in einem Brunnen einer Stadt im nahen Osten. Temperatur und Nährstoffgehalt waren schlecht, sodaß Vibrio keinerlei Fortpflanzungsgelüste verspürte. Ein Tourist hatte Durst und nahm einen Schluck Brunnenwasser. Den Rat, Brunnenwasser vor dem Genuß abzukochen, hatte der Urlauber nicht beachtet.

Vibrio comma fühlte sich in der neuen Welt des Urlaubers wohl. Temperatur und Nährstoffgehalt waren nun passend, und Vibrio comma beschloß, sich zu vermehren. Also nahm der Herr eine Rippe aus seiner Seite und formte ein zweites Vibrio comma.

"Seid fruchtbar und mehret euch", sagte der Herr der Vibrionen, "und macht euch die Erde untertan!" Die Vibrionen folgten diesem Gebot. Alle zwanzig Minuten verdoppelten sie ihre Zahl. Das ist üblich bei Bakterien, wenn sie sich wohlfühlen, denn sie beherrschen das Kunststück des raschen Wachstums. Bis Mitternacht waren sie auf Fünftausend angewachsen. Um 6 Uhr morgen hatten sie die Zahl von einigen Millionen erreicht.

Das Immunsystem des Urlaubers schien etwas zu merken. Zunächst stürzten sich weiße Blutkörperchen auf die Vibrionen und fraßen viele von ihnen. Später kamen die Antikörper, die sich ebenfalls auf die Vibrionen stürzten. Sie verklebten diese und machten sie zum Futter für Freßzellen. Doch es nützte nichts, die Vermehrungskraft der Vibrionen siegte, und um acht Uhr morgens bevölkerten zwölf Milliarden Vibrionen ihre Welt. Ihre Fortpflanzungswut kannte keine Grenzen.

Am Nachmittag bot die Welt der Vibrionen - unser Urlaubsreisender - ein Bild des Jammers. Er hatte Bauchschmerzen und wand sich in Krämpfen. Die Vibrionen, inzwischen waren es unzählige Milliarden geworden, lebten nun dicht gedrängt. Die ersten warnenden Stimmen wurden laut. Der Generalsekretär Vibrio Primus meinte, man müsse die Fortpflanzungsrate senken. Man dürfe nicht glauben, daß die Welt unbegrenzt aufnahmefähig sei. Wieder ein anderer, Vibrio ökonomikus, sah eine Lösung des Problems im stetigen Wirtschaftswachstum. Und so diskutierte man nutzlos dahin.

Der Urlauber lag auf einem Bett in einem kleinen Krankenhaus. Ärzte verabreichten Infusionen und Antibiotica und verordneten Bettruhe. Nun merkten sogar die Banausen unter den Vibrionen, daß man die Ausbeutung übertrieben hatte. Sie beteten zum Herrn, er möge die Welt nicht untergehen lassen. Doch es war schon zu spät.

Der Tourist starb spät abends an Cholera. Mit ihm starben viele Milliarden Vibrionen. Die Gattung Vibrio comma hatte auf tragische Weise gesiegt. Sie hatte sich ihre Welt untertan gemacht.

Die Fruchtbarkeitskrise
Ostereier
6 Milliarden
nature

© 1998 Rudolf Öller, Bregenz


Frontpage Übersicht Sitemap Joker Kontakt und Videos
1996 1997 1998 1999 2000
2001 2002 2003 2004 2005
2006 2007 2008 2009 2010
2011 2012 2013 2014 2015
2016 2017 2018 2019 2020
2021 2022 2023 2024

Helden der Wissenschaft:
Hermann von Helmholtz
(1821-1894)
war Arzt, Physiologe, Physiker, Philosoph, kurzum ein Universalgelehrter, wie es ihn heute nicht mehr gibt. Er war in der Medizin, in der Physik und in der Biologie zu Hause. Respekt!

Silvia liest

Rudolf Oeller:

"Theke, Antitheke, Syntheke"
(Thriller über eine tragikomische Stammtischrunde auf dem Weg in den Tod)
Verlag novum, Zürich. ISBN 978-3-99130-025-0

"Wir waren eine großartige Bande von Stammtischbrüdern an der deutsch-österreichischen Grenze, auch zwei Stammtischschwestern waren dabei. Wir pfiffen auf alle Corona-Bestimmungen und trafen uns an jedem Freitag – eine verschworene Truppe, fast schon ein Dream Team. Drink Team trifft es allerdings besser. Voll Hoffnung starteten wir ins Coronajahr 2020, am Ende wurde es eine teils fröhliche, teils depressive Reise in den kollektiven Tod."

Das Buch ist bei Amazon, bei anderen Online-Händlern, beim Verlag und auch im Buchhandel erhältlich.

Interview zum Buch