Welt der Naturwissenschaften
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Es ist besser als ein Wolf zu sterben, denn als ein Hund zu leben.
(Herbert Wehner)


29. April 2024


Übersicht

DIE UNKULTUR DES WEGSEHENS


Im September 2008 meldete die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an, was eine weltweite Finanzkatastrophe auslöste. Die Krise begann, als die Clinton-Regierung die US-Banken ermunterte, finanzschwachen Familien zu Wohnbaukrediten zu verhelfen. Die amerikanischen Banken ließen sich nicht zweimal bitten, zumal ja die Regierung dahinterstand. In der Folge tauchten merkwürdige Kredite, Anleihen und Hypotheken auf, die den Spottnamen "Ninja-Kredite" erhielten. Ninja ist die Abkürzung für "No income, no job, no asset" (Kein Einkommen, keine Arbeit, kein Vermögen). Schon bald erkannten einige Banken, dass sie diese wertlosen Forderungen loswerden mussten. Die Geschäftsleute schnürten die Ninja-Kredite zu faulen "Finanzprodukten" und legten auf dieses schimmelige Gemüse gerade so viel frisches Finanzobst, dass die Präparate von den Rating Agenturen als "AAA" eingestuft wurden. Die faulen Mischungen wurden bald als ungenießbar und wertlos erkannt.

Pyramidensysteme

Lehmann hinterließ ein Desaster. Viele Kleinanleger – auch in Europa – verloren alles. Der Zusammenbruch der Lehmann Brothers legte das milliardenschwere Finanzloch des Großbetrügers Bernie Madoff und sein Pyramidenspiel bloß. Ein Pyramidensystem, das auch "Ponzisystem" genannt wird, bezahlt mit dem Geld von Neuanlegern die Zinsen und Forderungen von Altanlegern. Der Betrug funktioniert, solange die meisten Anleger keine Forderungen stellen und sich an ihrem (virtuellen) Kontostand erfreuen. Als Lehman Brothers kippte, bekamen viele Anleger Panik und wollten ihr Geld bei Madoff abheben, doch Madoffs Milliarden existierten nur auf dem Papier. In Österreich vertrieb die (damals) rote Bank Austria windige und wertlose Madoff-Produkte, was unsere Justiz nicht die Bohne kümmerte. Jordan Belfort – der "Wolf of Wallstreet" – hat ein ähnliches betrügerisches System aufgebaut wie Bernie Madoff, wenn auch nicht so umfangreich. Er saß für seine Verbrechen nur 22 Monate im Gefängnis, Bernard Madoff blieb in Haft und starb dort 2021.

Die unfähige Börsenaufsicht

Es wäre unfair, den Anlegern bei Lehmann, Madoff und Belfort grenzenlose Gier zu unterstellen. Viele gutgläubige Sparer legten während ihres Arbeitslebens Geld beiseite, um sich im Ruhestand etwas Schönes zu gönnen. Schuld an den genannten Finanzkatastrophen hatten nicht nur die Gauner, die sich die Betrügereien ausgedacht hatten, sondern auch Politiker und Verwaltungsbeamte. Der prominente Investigativjournalist Michael Ocrant und mehrere Analysten erkannten früh Madoffs Ponzi-System und meldeten es der US-Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission), doch die Verantwortlichen schauten jahrelang weg. Weggeschaut wurde auch beim deutschen Wirecardskandal. Als die Sache längst zum Himmel stank, lobte Bundeskanzlerin Merkel unbeirrt ihre Börsenniete. Auch in den Wissenschaften gab es Skandale. Elisabeth Holmes ist eine verurteilte ehemalige US-amerikanische Biotechnologie-Unternehmerin. Als bereits das halbe Silicon Valley wusste, dass ihr Unternehmen nichts als ein riesiger Betrug und die investierten Milliarden verloren waren, wurde krampfhaft weggeschaut, denn Holmes ist eine Frau.

Diejenigen, die mit den Fingern auf die "Geldhaie" zeigen und den Kapitalismus zugunsten eines mehrfach gescheiterten Wirtschaftssystems namens Sozialismus abschaffen wollen, vergessen, dass es längst Gesetze gibt. In den genannten Betrugsfällen tragen die Behörden und damit die Regierungen eine Mitschuld.

Auch in anderen Bereichen wird weggesehen. Wenn bei einer Doktorarbeit unerlaubtes Kopieren eindeutig nachgewiesen wird, dann haben Begutachter und Universität zuvor aus Bequemlichkeit beide Augen zugemacht. Es ist auch wahrscheinlich, dass man gewissen Kandidatinnen nicht wehtun wollte.

Kompetenz statt Bildung

Weggesehen wird auch im Bildungssystem. Nicht einmal Bildungs"experten" wissen, dass die PISA-Resultate (internationale Vergleichsstudien der Fünfzehnjährigen) nach Stadtgrößen aufgeschlüsselt werden. Es gibt die Rubrik "Städte mit über eine Million Einwohner". In Österreich gibt es nur eine solche Stadt. Wer die Zahlen analysiert, erkennt den Niedergang der Schulen in bestimmten Regionen als Folge des Zuzugs fremder "Kulturen", die mit unserer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft nichts anfangen können. Diese Feststellung ist belegbar. Auch hier wird weggesehen.

Auch die Änderungen unserer Schulziele – weg von Bildung hin zu "Kompetenzen" – hat sich als fatal herausgestellt. Wir erziehen bildungsarme Kompetenzwesen. Die letzte PIRLS-Studie der Zehnjährigen hat das deutlich gezeigt.

Bildung ist mehr als Wissen und Kompetenz, aber das scheint manchen "Experten" nicht klar zu sein. So fordern bei uns immer noch einige Leute einen weiteren Ausbau der Digitalisierung und verwechseln das mit Bildung. Selbstverständlich wird es eine Welt ohne Computer nicht mehr geben, aber Bildung hat mit Computern nur am Rande zu tun. Bildung entsteht in der Auseinandersetzung zwischen Lehrern und Schülern über die Dinge dieser Welt. Computer sind Maschinen zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung aber keine Bildungsgeräte.

Videant Consules!

Manche Politiker scheinen bei den Plänen zur "Energiewende" weggesehen zu haben. Haben sich da einige von ihnen esoterisch-physikalische Gesetze einreden lassen? Der deutsche Rechnungshof meint, dass das der Fall ist. Die gesamte heute technisch umgesetzte Energie als Strom aus Wasser und Wind zur Verfügung zu stellen, kann nur jemand propagieren, der glaubt, Kilometer, Kilowatt und Kilowattstunden seien ungefähr dasselbe. Einige haben sehr wohl eine Ahnung, sehen aber weg und hängen ihr Fähnchen in den Wind eines vermeintlichen Fortschritts.

Gesetze sind dazu da, um angewendet zu werden. Das Wegsehen ist eine Unkultur, die mindestens so viel Schaden anrichtet wie die Umtriebe von Betrügern und unfähigen Managern. Die Römer pflegten das mit "Videant Consules!" zu kommentieren: Die Regierung soll gefälligst genauer hinsehen.



© 2024 Rudolf Öller, Bregenz  [/2024/roe_2412]


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"Theke, Antitheke, Syntheke"
(Thriller über eine tragikomische Stammtischrunde auf dem Weg in den Tod)
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